Aus einem Beitrag zu einem Gedenkbuch der
Schulkameraden:
Ich kam am 27. Oktober 1891 in St. Gallen an der Brunnenbergstr. 1 als Kind des
Tapezierermeisters (später aber eines Zigarrengeschäftes) Oskar Grüninger und seiner
Frau Maria, geb. Forrer, zur Welt. Vom Mai 1898 bis zum April 1904 besuchte ich die
Primarschulklassen 1-6 im Graben- und im St. Leonhardschulhaus. Anschließend trat
ich für 3 Jahre in die Realschule Bürgli ein und bestand dann die Aufnahmeprüfung ins
Lehrerseminar Mariaberg Rorschach.
Sowohl in der Primar-, als auch in der Realschule hatte ich große Mühe im
Lernen, aber auch keine besondere Freude daran, so dass ich bei mehr Fleiß auch bedeutend
mehr hätte leisten können. Das »Tschutten« und Turnen, überhaupt jede sportliche Betätigung,
sagten mir weit besser zu. Wieso ich dazu kam, mich für den Lehrerberuf zu entschließen,
ist mir heute noch unerklärlich!
Von 1907 bis zum Frühjahr 1911 durchlief ich die 4 Klassen
des Seminars mit recht gutem Erfolge und erwarb mir am 7. April 1911 das st.gallische
Primarlehrerpatent mit der Durchschnittsnote 1,4.
Meine erste Lehrstelle versah ich vom Mai
1911 bis August 1913 in Räfis-Buchs, wo ich die 3.-5. Klasse unterrichtete. Alsdann wurde ich
an die Oberschule von evang. Au St. Gallen berufen. Mit großer Freude und voller Hingabe widmete
ich mich hier bis zum September 1919 der Jugenderziehung. Dabei erzielte ich schöne Erfolge und
bin heute noch stolz auf die Bemerkung im bezirksschulrätlichen Visitationsbericht über das
Schuljahr 1918/19: »Herr Grüninger ist nicht Schulmeister, sondern darf füglich als Meister der
Schule bezeichnet werden und verdient das beste Zeugnis.«
Im Sommer 1911 absolvierte ich die
Rekrutenschule der Verpflegungstruppen in Thun. 1912 daselbst die Unteroffiziersschule und, als
mir das Abverdienen des Korporalsgrades in einer weiteren Rekrutenschule erlassen wurde, anschließend
die Offiziersschule in Liestal. Auf den 31. 12 1912 erfolgte meine Ernennung zum Leutnant der
Verpflegungstruppen.
Einzig und allein wegen finanzieller Besserstellung bewarb ich mich im
Sept. 1919 um die Stelle des Polizeikommandanten des Kantons St. Gallen. Die Wahl des
Regierungsrates fiel denn auch auf mich. Bereits im Herbst 1925 wurde ich mit dem Hauptmannsgrad
ausgezeichnet und stand nun als Kommandant dem Polizeikorps des Kantons vor. Als Schullehrer hatte
ich in der Au die hübsche Tochter des Kaufmanns Federer und Enkelin des Lehrers und
Gemeinderatsschreibers von Bernegg kennengelernt. Nachdem ich mich als Polizeileutnant eingearbeitet
hatte, brachte ich sie als Frau heim. Unserer glücklichen Ehe verdanken wir zwei Töchter.
Mit größter Begeisterung versah ich meinen Dienst und lehnte selbst bessere Stellenangebote
als Departementssekretär und als Strafanstaltsdirektor rundweg ab. Die Bekämpfung des
Verbrechertums mit den modernsten Fahndungsmitteln und die Heranbildung befähigter Polizeiorgane,
wie deren Wohlergehen, lagen mir mehr am Herzen.
In frühzeitiger Erkennung der großen Gefahr
der aufkommenden Motorisierung des Verkehrs, widmete ich mich als einer der Ersten schon 1934/35
der praktischen Verkehrserziehung in den Schulen des Heimatkantons und der übrigen Schweiz.
Daneben fand ich, nie müde werdend, fortwährend neue, interessante Probleme zu lösen. Als
langjähriger Präsident des schweiz. Polizeihundeführervereins schenkte ich der Ausbildung von
Polizeihunden meine besondere Aufmerksamkeit, wobei ich im Zentralvorstand des schweizerischen,
wie als Präsident des st.gallischen Tierschutzvereins großen Wert auf liebevolle, tierschützlerisch
einwandfreie Dressur legte.
Von 1935-39 stellte ich mich meinem Vaterlande auch als Inspektor
des passiven Luftschutzes zur Verfügung. Zur beruflichen Weiterbildung nahm ich an verschiedenen
Instruktionskursen in der Schweiz, sowie am internationalen Polizeikongressen in Berlin, Brüssel und
Paris teil.
Wir alle kennen die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des deutschen
Nationalsozialismus, unseren Frontenfrühling, wie die verschiedenen heimlichen und unheimlichen
Organisationen der sogenannten 5. Kolonne im eigenen Land. Im gereiften Alter stehend haben wir
konservativ, wachsam und kritisch auch die verzwickte internationale Politik verfolgt, die -
was uns allen klar war, unweigerlich zum 2. Weltkrieg führen musste. Diese Zeiten zunehmender
Spannungen brachten mir besondere Aufgaben.
In meiner Eigenschaft als Polizeioffizier
lernte ich verschiedene hochstehende Persönlichkeiten kennen, z.B. König Carol mit Familie aus
Rumänien, Außenminister Titulescu, Kronprinz von Japan mit Gemahlin, Prince of Wales, Juliana,
Königin der Niederlande, Dr. Dollfuss, österreichischer Bundeskanzler, Dr. Schuschnigg, Dr. Ender,
Dr. Viktorin, Sicherheitsdirektor von Vorarlberg und General Philippe Pétain, Feldmarschall. Zu
mehreren von ihnen entwickelten sich aus dem dienstlichen Kontakt freundschaftliche, ja herzliche
Beziehungen.
Der Besetzung Oesterreichs durch die Hitler-Armee im Februar 1938 folgte
automatisch die verbrecherische Verfolgung und Vernichtung auch der österreichischen Juden. Der
Zustrom jüdischer Flüchtlinge, die völlig mittellos und verwahrlost über den Rhein in den Kanton
St. Gallen gelangten, wurde täglich größer. Da war es einerseits nicht zu verwundern, wenn Bundesrat
und Kantonsregierung des strikten Befehl herausgaben, diese rücksichtslos wieder über die Grenze
zurückzuschieben. Andrerseits hatte ich die Auffassung, dass es vielmehr Pflicht und Tradition der
Schweiz sei, solchen Leuten, die der Willkür ihrer Verfolger, ja größtenteils sogar dem Tode geweiht
waren, Asylrecht zu gewähren. Als verantwortlicher, mitfühlender Mensch konnte ich viele der durch
solche Zurückweisungen entstandenen Jammerszenen nicht mitansehen und gestattete auf eigene
Verantwortung über 2000 Flüchtlingen hier zu bleiben, ließ sie in Flüchtlingslagern unterbringen
und übergab sie der Fürsorge ihrer schweizerischen Glaubensgenossen.
Auf Veranlassung
meines Chefs, Regierungsrat Valentin Keel (soz.), gegen den selbst eine administrative Untersuchung
wegen Begünstigung von politischen (sozialdemokratischen) Flüchtlingen lief, wurde gegen mich
Strafklage, wegen Nichtbeachtung von bundesrätlichen und kantonalen Weisungen über die Behandlung
von Flüchtlingen, erhoben. Die ganze Flüchtlingsangelegenheit ging nun über meine Person.
Regierungsrat Keel kam mit einem blauen Auge davon, mich aber verurteilte das Bezirksgericht St.
Gallen wegen Amtspflichtverletzung zu einer Buße von Fr. 300.- und den Kosten, was meine sofortige
Entlassung als Polizeihauptmann zur Folge hatte.
Allerdings schäme ich mich dieser Verurteilung
nicht. Im Gegenteil, ich bin stolz darauf, vielen Hunderten von schwer Bedrängten das Leben gerettet
zu haben! Meine Hilfeleistung an die Juden war begründet in meiner christlichen Weltauffassung!
Die Politik ist die Kunst des Möglichen. Zu oft weicht das Recht dem Druck der Macht.
Seither habe ich mich als Vertreter und Selbständigerwerbender mit wechselndem Erfolge betätigt,
und wenn ich mich auch öfters in äußerst bedrängter Notlage befand, so fand ich den Ausweg doch
immer wieder. Ich erfuhr Gottes Hilfe in reichem Maße.